Das Türkis-Grüne Gesundheitsprogramm: Qualität der Ankündigungen wird an ihrer Umsetzung zu messen sein

Dass sich im „Regierungsprogramm 2020-2024“ das nur sieben Seiten (von 326) schmale Unterkapitel „Gesundheit“ im Kapitel „Soziale Sicherheit, neue Gerechtigkeit & Armutsbekämpfung“ geradezu versteckt, lässt hoffentlich keine Rückschlüsse auf den Stellenwert zu, den die heute angelobte Türkis-Grüne Bundesregierung diesem Thema beimisst. Unbefriedigend ist, dass bei vielen Absichtserklärungen der neuen Koalitionäre die zentralen Fragen zur Finanzierung ausgeklammert bleiben. Die Qualität dieser Ankündigungen wird an ihrer Umsetzung zu messen sein.

Erfreulich, dass gleich in der Einleitung davon die Rede ist, dass die „hohe Qualität“ der Gesundheitsversorgung“ … „nachhaltig finanziell abgesichert sein“ soll, ein „niederschwelliger Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung mit möglichst kurzen Wartezeiten gewährleistet werden soll“ und ein Bekenntnis zum „Ausbau der flächendeckenden wohnortnahen Versorgung“ abgelegt wird. Das kennen wir allerdings bereits von vorangegangenen Regierungsprogrammen, ohne dass dies konkrete Spuren hinterlassen hätte. Hoffentlich ist es diesmal anders.

Im Folgenden eine Darstellung und Bewertung einiger Punkte des Gesundheitskapitels des Türkis-Grünen Koalitionsprogramms:

  • Dass die „wohnortnahe Versorgung der Bevölkerung durch niedergelassene Kassenärztinnen und Kassenärzte“ eine Säule der Versorgung ist, schreibt den Status quo fest und ist ohne sinnvolle Alternative. Dabei darf nicht übersehen werden, dass nur ein Mit- und Nebeneinander von herkömmlichen Arztpraxen, Gruppenpraxen und Primärversorgungseinheiten ein tragfähiges Fundament der niedergelassenen ärztlichen Versorgung sein kann.
  • Zu wichtigen konkreten Voraussetzungen für diese wohnortnahe Versorgung wie z. B. mehr ärztliche Hausapotheken bleiben die Regierungspartner bei diffusen Formulierungen („Bekenntnis zum System der öffentlichen Apotheken zur Medikamentenversorgung für die gesamte Bevölkerung unter Beibehaltung wohnortnaher und praxisorientierter Lösungen“). Das Hausapotheken-System muss unbedingt gestärkt werden.
  • Der angekündigte Ausbau der Primärversorgung, die den Bedürfnissen der Versicherten entgegen kommt (z. B. die Etablierung von Allgemeinmedizinischen Akutordinationen vor oder in Spitälern zur vorgelagerten Versorgung) entspricht einer Forderung der Kammer. Generell müssen nicht nur die bisherigen Erfahrungen berücksichtigt werden, dass sich neue PVE nicht einfach politisch einfordern lassen, sondern dass PVE auch keine Lösung für den Ärztemangel sind.
  • Eine „Erweiterung der Vertragsarztmodelle zur Erleichterung der Niederlassung im ländlichen Raum“ wird von uns begrüßt, die Umsetzung sollte im Rahmen der Gesamtverträge auf Augenhöhe mit der Ärzteschaft erfolgen.
  • Die „gezielte Offensive für Fachärztinnen und Fachärzte“ inkl. Facharztzentren sehen wir positiv, sie entspricht einer unserer Forderungen. Unter der „Facharztoffensive“ für Fächer mit Unterversorgung werden allerdings explizit nur Pädiatrie, Kinderpsychiatrie und Augenheilkunde genannt, was angesichts der aktuellen Zahlen zur Ärzteknappheit zu kurz greift.
  • Generell ist zu fordern, dass bei PVE, Facharztzentren und einer Erweiterung der Vertragsarztmodelle die Finanzierung über die Kassen und Länder sichergestellt ist.
  • Bezüglich Ärztemangel sollen laut Regierungsprogramm nicht nur Maßnahmen wie z. B. Landarztstipendien, sondern auch die von der Ärztekammer seit langem geforderten Einführung des Facharztes für Allgemeinmedizin Anreize setzen. Die vorgesehene Finanzierung des Klinisch-Praktischen Jahres gehört dringend umgesetzt, wobei die Umsetzung mit einer Ausweitung der Lehrpraxisförderung verbunden sein muss.
  • Auch die angekündigte „Evaluierung der Zugangsbestimmungen zum Medizinstudium“ und die „kontinuierliche Ausweitung“ des bestehenden Angebots an Plätzen für das Medizinstudium und die anschließende Ärzteausbildung sind grundsätzlich sinnvolle Schritte.
  • Laut dem Regierungsprogramm sollen „neue Wege zur Attraktivierung … für im Gesundheitsbereich tätigen Berufsgruppen“ gefunden werden. Da ist die Rede von der Aufwertung von Diplomierten Gesundheits- und Pflegefachkräften und der „Stärkung“ neuer Gesundheits- und Sozialberufe. Hier wird u. a. darauf zu achten sein, dass die Verantwortungen sehr präzise geklärt sind und dass die Versorgungsqualität nicht durch Anbieter mit suboptimaler Ausbildung verschlechtert wird.
  • Das Koalitionsprogramm strebt eine verbesserte Abstimmung der medizinischen Versorgung zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung und damit eine Stärkung der Bundeszielsteuerung an.  Kritisch zu sehen ist dabei, dass von einer Einbeziehung der Ärzteschaft hier einmal mehr nicht die Rede ist. Diese ist erneut mit Nachdruck zu fordern.
  • Dass das Thema Sozialversicherung Türkis/Grün gerade einmal ein paar – und noch dazu recht allgemein gehaltene – Zeilen wert ist, muss angesichts der gesundheitspolitischen Zeitenwende, die uns „Kassenreform“ und Österreichische Gesundheitskasse bescheren, erstaunen. Was diese Nicht-Festlegung in einem besonders heiklen Bereich des Sozialstaates in der Praxis bedeuten wird, werden wir genauestens beobachten müssen. Doch immerhin gibt es ein Bekenntnis zur Selbstverwaltung der SV, die vor einer Verstaatlichung des SV-Systems schützt.
  • Dass es keine Ausweitung von Selbstbehalten für Arztbesuche im ASVG geben soll, ist positiv: Der Arztbesuch muss niedrigschwellig bleiben, insbesondere für Personen mit niedrigem Einkommen.
  • Sehr klar äußert sich die Regierung zum Thema E-Health, sowohl grundsätzlich als auch auf organisatorisch-administrativer Basis („E-Impfpass, E-Rezept, E-Befund, E-Transportschein, E-Medikation“). Hier sind aus Ärztesicht als unveräußerliche Bedingungen grundsätzlich ein hohes Maß an technischer Ausgereiftheit und eine gute Benutzerfreundlichkeit bei gleichzeitigem Datenschutz zu fordern. Das wird nur funktionieren, wenn zuerst mit den Ärzten die Projekte aufgestellt werden und die Finanzierung geklärt ist, und erst dann mit der IT-Industrie die Umsetzung angegangen wird. Die von der Regierung vorgesehene bestmöglichen Umsetzung telemedizinischer Behandlungen ist zu begrüßen, ein weiterer Ausbau ist hier unbedingt notwendig.
  • Zur „Weiterentwicklung der E-Card als Schlüssel für papierlose Prozesse“ ist anzumerken, dass die E-Card z. B. bei Wahlärzten nicht im Einsatz ist: Hier fehlt eine strukturierte E-Health-Strategie, die unter Einbindung der Ärzteschaft erarbeitet werden muss.
  • Grundsätzlich will die Regierung „Digitalisierung auch in medizinischer Forschung, Diagnose und Behandlung vorantreiben“. Solche Systeme müssen jedenfalls unbedingt Ärzte-unterstützend und dürfen niemals Ärzte-ersetzend sein. Zu wissenschaftlichen Zwecken sind ausschließlich anonymisierte Daten zu nützen. Außerdem sind hier perspektivisch wichtige Aspekte wie die Anpassung der ärztlichen Ausbildung, die Rolle des Arztes in einer Medizin mit höherem Stellenwert von Künstlicher Intelligenz und Fernübertragung, und ganz generell die Frage der Finanzierung und der Rechtssicherheit zu klären.
  • Die geplante „Aufwertung und Kompetenzerweiterung der Schulärztinnen und Schulärzte inklusive Verwertung anonymisierter Daten“ ist sinnvoll und entspricht ebenso einer Forderung der Ärztekammer wie die Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes zum Eltern-Kind-Pass bis zum 18. Lebensjahr – dazu liegt dem Gesundheitsministerium ein fertiger Entwurf der Ärztevertretung vor.
  • Die Etablierung von finanziellen und sachlichen Anreizsystemen für gesundheitsfördernde Maßnahmen und die Teilnahme an Präventionsprogrammen (z.B. Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen) ist aus medizinischer Sicht ebenso wünschenswert wie die „Evidenzbasierte Modernisierung der Vorsorgeuntersuchungen (z.B. Mammascreening, Darmkrebsvorsorge)“ – immer unter der Voraussetzung, dass die Finanzierung gesichert ist und die ärztliche Expertise in der konkreten Ausgestaltung maßgeblich berücksichtigt wird.
  • Es ist erfreulich, dass Parallelexporten von Apotheken der Kampf angesagt werden soll – als Maßnahme gegen Engpässe in der Arzneimittelversorgung.
  • Die von der Regierung gewünschte unabhängige Qualitätssicherung gibt es im niedergelassenen Bereich in Form der ÖQMED bereits. Für die Spitäler fehlt so ein System und es ist ein sinnvoller Schritt, eines zu etablieren.
  • Schließlich entspricht die angekündigte Abschaffung der unechten USt.-Befreiung bei Vermietungen an Ärztinnen und Ärzte einer Forderung der ÖÄK.

Fazit

Alles in Allem: Ein Programm, das zum Teil Forderungen der Ärztevertretung aufgreift, zum Teil Potenzial für politische Kontroversen beinhaltet, und häufig keinen Mut zu Konkretisierungen erkennen lässt. Die Bevölkerung hat z. B. ein Anrecht auf ein klares Bekenntnis, dass die künftige Regierung bereit ist, zusätzliches Geld in die Gesundheitsversorgung zu investieren, und auf Informationen, um welche Beträge es sich dabei handelt. Zumindest müsste Österreich bei den Gesundheitsausgaben anteilig mit Deutschland gleichziehen.