Anlässlich der Ankündigung aus dem Gesundheitsministerium, einen Entwurf für ein Primärversorgungszentren- bzw. Primary Health Care (PHC)-Gesetz vorzulegen, und angesichts der damit verbunden aktuellen Stimmungsmache von „Gesundheitsreformern“ möchte ich zum Thema PHC hier ausführlich Stellung beziehen.
Denn das Thema ist wesentlich brisanter, als es zunächst erscheinen mag. Es geht in der Tat um einiges: um die künftige Rolle niedergelassener Ärztinnen und Ärzte, um die Zukunft des Gesamtvertrags zwischen Ärztekammer und Krankenkassen, und nicht zuletzt um die Zukunft unseres Versorgungssystem und der sozialen Medizin durch Kassenärzte.
Entsprechend konsequent hat die Ärztekammer auf die Übermittlung der „Politischen Eckpunkte für geänderte rechtliche Rahmenbedingungen zur Umsetzung des Konzepts ‚Das Team rund um den Hausarzt‘“ durch das Gesundheitsministerium reagiert. Am vergangenen Samstag hat die Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte bei einer Sondersitzung einstimmig einen Empfehlungsbeschluss gefasst. Darin werden die Länderkammern aufgerufen, die notwendigen Vorbereitungen für die Kündigung der Gesamtverträge mit den Krankenkassen zu treffen, sollten die über die „Eckpunkte“ bekannt gewordenen Vorstellungen des Gesundheitsministeriums Gesetz werden. Diese Vorbereitungen umfassen beispielsweise das Erarbeiten eines einheitlichen Tarifs für die Zeit eines vertragslosen Zustands sowie die Erstellung von Informationsbroschüren für Ärzte sowie für Patienten über die Abrechnungsmodalität außerhalb des Kassensystems.
Österreich braucht keine PHC-Zentren, sondern einen besser ausgestatteten niedergelassenen Bereich
Primärversorgung betreiben niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in Österreich Tag für Tag. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte arbeiten vernetzt mit zahlreichen anderen Gesundheitsberufen zusammen und helfen wohnortnahe ihren Patienten. Die Zufriedenheit mit Hausärzten ist beeindruckend, sie liegt aktuellen Meinungsumfragen zufolge bei 96 Prozent. Das ist ein sehr eindeutiges Votum für das bestehende Hausarzt- und Primärversorgungssystem.
Natürlich kann man immer Verbesserungen herbeiführen, aber Österreich braucht definitiv keine neuen PHC-Strukturen, wo Patienten nur mehr in Zentren versorgt werden. Sie sind überflüssig und lösen keine Probleme, die nicht auch in der bestehenden Niedergelassenenstruktur sehr gut gelöst werden könnten. Und was viel gefährlicher ist: Sie zerstören die bestehenden Versorgungsstrukturen.
Was Österreich allerdings schon braucht, ist ein von der Gesundheitspolitik und den Krankenkassen besser ausgestatteter niedergelassener Bereich. Fast täglich kommen Hausärzte in die Ärztekammer und erklären, was sie noch alles gemeinsam mit anderen Gesundheits- und Sozialberufen machen könnten, vorausgesetzt, es gäbe die dafür notwendigen Ressourcen.
Das Primärversorgungszentrum oder PHC-Zentrum ist in erster Linie ein modisches Schlagwort ohne klaren Inhalt.
Es ist, und auch das haben die gesundheitspolitischen Diskussionen der vergangenen Jahre gezeigt, keineswegs eindeutig, was genau ein PHC-Zentrum sein soll. Tatsächlich verbirgt sich hinter diesem modischen Schlagwort das, was österreichische Hausärzte schon jetzt tagtäglich machen. So war es auch kein großes Problem, Modelle wie das PHC Medizin Mariahilf, das aus einer Gruppenpraxis hervorgegangen ist, als PHC-Zentrum umzusetzen. Die Ärztekammer konnte dem zustimmen, weil die Vorstellungen der Ärzteschaft bei seiner Gründung umgesetzt wurden, nämlich: freiberufliche Hausärzte, die mit zusätzlichen finanziellen Ressourcen und gemeinsam mit anderen Gesundheits- und Sozialberufen den Patienten ein weites Behandlungsspektrum anbieten können.
Das nun vorgelegte PHC-Konzept allerdings zielt auf anonyme Gesundheitsgroßinstitutionen hin, bei denen ein Arztkontakt nicht einmal verbindlich vorgesehen ist und die sich in Ketten von Industrie- und Wirtschaftskonzernen organisieren können – mit angestellten Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Gesundheitsberufen unter dem Weisungsrecht patientenferner Manager.
In der internationalen Diskussion sind mit Primärversorgungseinheiten auch oft Institutionen gemeint, die verpflichtend als erste Anlaufstelle aufgesucht werden müssen und dann den Zugang der Patienten zu den – meistens wesentlich kostspieligeren – Institutionen der Sekundärversorgung reglementieren und auch bremsen sollen. Dabei geht es meistens nicht um die Qualität, sondern ums Sparen. Man muss also genau hinschauen, was sich jeweils hinter dem Etikette PHC-Zentrum konkret verbirgt.
PHC-Begriff hat für viele seine Unschuld verloren
Für viele österreichische Ärztinnen und Ärzte hat der Begriff PHC schon deshalb seine Unschuld verloren, weil sie sich daran erinnern, dass im Sommer 2014 ein – von Beamten als „Technokratenpapier“ verharmloster – PHC-Entwurf aus dem Gesundheitsministerium zu berechtigten Befürchtungen Anlass gab. Die Ärztekammer konnte das bekanntlich im letzten Moment durch konsequentes Vorgehen umgestalten. Es wurde das Papier „Das Team rund um den Hausarzt – Konzept zur multiprofessionellen und interdisziplinären Primärversorgung in Österreich“ erarbeitet und beschlossen: ein tragbarer Kompromiss, zu dem die Ärztekammer auch heute noch steht. Allerdings tauchen jetzt genau wieder jene Forderungen auf, die schon damals von der Ärztekammer wegverhandelt wurden, sodass sich für die Ärztekammer schon die Frage stellt, ob Bund, Länder und Sozialversicherung zu ihren eigenen Beschlüssen in der Bundeszielsteuerung stehen.
Gesamtvertrag: Aktuelles PHC-Konzept des Ministeriums weicht vom Papier des Vorjahres ab
Das jetzt bekannt gewordene Konzept des Gesundheitsministeriums weicht in relevanten Punkten aber von dem im Juni 2014 beschlossenen Konzept noch weiter ab. Ein Beispiel dafür ist der Gesamtvertrag, also der zwischen der Ärztekammer und den Krankenkassen abgeschlossene Kollektivvertrag für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte mit Kassenvertrag. In der Version von Juni 2014 hieß es dazu: „Dieses Konzept rückt auch vom Prinzip von Gesamtverträgen der Sozialversicherung mit den Leistungserbringern nicht ab.“ Für die neuen Primärversorgungsstrukturen sei eine eigenständige gesamtvertragliche Vereinbarung abzuschließen. Abweichend davon, beziehungsweise wenn eine solche gesamtvertragliche Vereinbarung nicht zustande kommt, können von der Sozialversicherung Sondereinzelverträge mit Zustimmung der zuständigen Ärztekammer abgeschlossen werden, hieß es damals.
Doch jetzt soll plötzlich alles anders sein: Der konkrete Primärversorgungs-Vertrag zwischen Sozialversicherung und Primärversorgungszentren werde als Einzelvertrag gegenüber dem Gesamtvertrag „wesentlich wichtiger und enthält detaillierte Regelungen, wie zum Beispiel die gesamte Vergütung der mit der Primärversorgung vereinbarten Leistungen“, so einer der Eckpunkte. Von einer „Zustimmung der zuständigen Ärztekammer“ ist hier nicht mehr die Rede, was klar macht, dass das Ministerium den Gesamtvertrag aushebeln beziehungsweise massiv und nachhaltig durchlöchern und dem staatlich geschützten Monopolisten Sozialversicherung die einzelnen Ärztinnen und Ärzte allein gegenüberstellen will – also eine Aufkündigung des seit mehr als 100 Jahren funktionierenden Modells, wonach dem Versicherungsmonopol der Sozialversicherung ohne Wahlfreiheit für den Versicherten ein Verhandlungsmonopol der Ärzteschaft im Wege der Ärztekammer gegenübersteht, damit ein fairer Preis erzielt werden kann
Ärztekammer soll ausgebremst und die Position von Ärzten bei den Verhandlungen geschwächt werden
Das gilt auch für eine weitere vom Ministerium geplante Regelung: Bei Nichterreichen eines Gesamtvertrags beziehungsweise Eintreten eines vertragslosen Zustands soll die Sozialversicherung Sondereinzelverträge mit Zustimmung der zuständigen Ärztekammer abschließen können, heißt es in einem weiteren Eckpunkt: „Kommt es zu keiner Einigung, so ist aufgrund des öffentlichen Interesses nach Ablauf einer angemessenen Frist ein Abschluss durch die Sozialversicherung möglich.“ Auch das zielt sehr eindeutig auf ein Ausbremsen und Abseitsstellen der Ärztekammer ab und ist definitiv eine Verschlechterung gegenüber dem Papier vom Vorjahr.
Es ist erstaunlich: Eine Gesundheitsministerin mit Gewerkschaftshintergrund will den Kollektivvertrag für Kassenärzte durchlöchern und stellt damit die Sozialpartnerschaft in Frage. Das ist ungefähr so, als würde man zum Beispiel in der Automobil- oder Baubranche vom Kollektivvertrag abweichen und diesen durch Direktvereinbarungen in den einzelnen Unternehmen ersetzen. In den genannten Branchen würde eine Gewerkschafterin eine derartige Schwächung der Belegschaft niemals akzeptieren. Eine Schwächung der niedergelassenen oder der in PHC-Zentren tätigen Ärztinnen und Ärzte in den Verhandlungen mit den Krankenkassen strebt die Gesundheitsministerin jedoch ausdrücklich an.
Aushöhlung des Gesamtvertrags bedroht medizinische Versorgung
Die Aushöhlung des Gesamtvertrags ist aber nicht nur aus standespolitischen Erwägungen abzulehnen, sie bedroht auch die medizinische Versorgung. Würden die Krankenkassen tatsächlich künftig Einzelverträge direkt mit Ärztinnen und Ärzten oder PHC-Zentren abschließen, und nicht mehr mit der Ärztekammer, so würde der fehlende Schutz der Ärztekammer diese Vertragspartner extrem schwächen und natürlich auch dazu führen, dass die Ärztekammer den Kolleginnen und Kollegen nicht mehr dazu raten kann, diese Verträge einzugehen. Das hätte unter anderem negative Auswirkungen auch auf die von den Krankenkassen bezahlten Leistungen und damit auf die Versorgung der Patienten. Es besteht die eminente Gefahr, dass sich die Ärzteschaft aus dem Krankenkassensystem in Richtung Wahl- und Privatarztsystem verabschiedet, weil sie sich dieses Ausgeliefertsein an den Staat nicht mehr gefallen lässt. Letztlich müssten die Patienten, vor allem die sozial schwachen Bevölkerungsgruppen, die Folgen tragen.
PHC-Gesetz kann Fundament für zentral gelenkte Staatsmedizin und/oder Privatisierung durch Großkonzerne legen
Eine gesetzliche Verankerung großer PHC-Einheiten, wie sie von der Gesundheitspolitik vielfach gewünscht wird, bedeute auch einen Trend zum Zentralismus. Zum einen könnte dabei die Entwicklung in Richtung Staatsmedizin gehen, bei der Gesundheitspolitiker und -ökonomen zum Beispiel bei Diagnose- und Therapieverfahren bis ins Detail den Ton angeben könnten – PHC am Gängelband der Obrigkeit.
Zum anderen könnten große internationale Konzerne die Chance nützen, die PHC-Zentren zu übernehmen und PHC-Ketten nach ausschließlich betriebswirtschaftlichen Überlegungen zu führen. Das wäre ein Großangriff auf die soziale Medizin, weil damit die soziale Versorgung nicht mehr vom ärztlichen Ethos gesteuert wird, sondern von ausschließlich kapitalistischem Ethos, und die Gesundheitsversorgung gleichsam ins Ausland „verkauft“ wird.
Maßnahmen der Ärztekammer
All das soll nicht bedeuten, dass sich die Ärztekammer PHC-Zentren grundsätzlich verschließt, sie müssen allerdings für die Versorgung sinnvoll und standespolitisch akzeptabel sein. Sollte das PHC Medizin Mariahilf ein Prototyp für weitere PHC-Zentren sein, so ist aus meiner Sicht dagegen nichts einzuwenden. Die vom Ministerium formulierten Eckpunkte für das entstehende PHC-Gesetz zeigen jedoch, dass man einen völlig anderen Weg gehen will.
Der Gesundheitspolitik und der Sozialversicherung muss dabei allerdings klar sein, dass dieser Weg nicht mit Zustimmung der Ärzteschaft möglich sein wird. Sollte es nötig sein, werden die Ärztinnen und Ärzte künftig Medien und Bevölkerung sehr konsequent über die Auswirkungen problematischer PHC-Entscheidungen informieren, um gefährlichen Fehlentwicklungen in der Gesundheitsversorgung vorzubeugen.
In letzter Konsequenz wird die Ärztekammer auch nicht davor zurückschrecken, zu drastischen Mitteln zu greifen, und die Gesamtverträge mit den Gebietskrankenkassen kündigen. Werden die drohenden neuen Bedingungen tatsächlich umgesetzt, ist es für die niedergelassene Ärzteschaft in Österreich nicht mehr möglich, im Kassensystem weiterzuarbeiten.
Die Ärztekammer steht der Gesundheitspolitik sehr gerne für konstruktive Gespräche zur Verfügung. Eine geeignete Organisationsform kann hier beispielsweise die „Erweiterte Gruppenpraxis“ oder die „Gruppenpraxis neu“ sein – wenn, die entsprechenden rechtlichen Regelungen ausreichend flexibel sind, zum Beispiel die Anstellung von Ärzten bei Ärzten möglich ist, Fragen der Finanzierung und des Leistungsspektrums geklärt sind, das Thema Hausapotheke und Lehrpraxis endlich gelöst wird und Gesundheitspolitik und Krankenkassen endlich ihre Blockadehaltung aufgeben und die Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten strukturell und finanziell fördern.