Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Unser Krankenkassensystem beruht im niedergelassenen Bereich unter anderem auf Regelungen, die zu einer Leistungsverknappung und einem Herstellen von Engpässen führen. Und die nur ein Ziel haben, nämlich Sparen. Das ist der breiten Öffentlichkeit und den meisten Patienten kaum bekannt, obwohl sie, gemeinsam mit uns Ärzten, die Konsequenzen tragen müssen. Deshalb haben wir heute auf einer Pressekonferenz gefordert, Deckelungen und Degressionen ersatzlos zu streichen. Deckelungen sind von den Sozialversicherungen willkürliche festgesetzte Plafondierungen bei ärztlichen Leistungen. Ist dieser Plafond erreicht, honoriert die Kasse dem niedergelassenen Arzt weitere Leistungen dieser Art nicht mehr. Und zwar unabhängig davon, wie hoch der Bedarf der Patienten ist. Degressionen wiederum sehen vor, dass ärztliche Leistungen mit steigender Zahl immer schlechter honoriert werden.
Einige Beispiele für Deckelungen, die im Detail je nach Bundesland und Kasse variieren können:
- Es wird zwar vielfach mehr Zuwendungsmedizin und ärztliche Patientenaufklärung gefordert, doch eine „ausführliche diagnostisch therapeutische Aussprache“ zwischen Arzt und Patient können Allgemeinmediziner mit Kassenpraxis nur in maximal 18 Prozent der Fälle pro Quartal verrechnen.
- Und ein „psychosomatisch orientiertes Diagnose- und Behandlungsgespräch“ kann in maximal 20 Prozent der Fälle je Arzt und Quartal verrechnet werden – und das in Zeiten, in denen Burnout und andere psychische Probleme rapide zunehmen.
- Im Fachgebiet Gynäkologie kann eine Abklärung der weiblichen Harninkontinenz in nur 6 Prozent der Fälle verrechnet werden. Die Anleitung zur Selbstuntersuchung der Brust nach gängigen Standards, die auf Frauen ab dem 25. Lebensjahr beschränkt ist, ist in maximal 15 Prozent der Fälle pro Arzt und Quartal verrechenbar. Die Abstrichnahme für HPV- und Chlamydien-Nachweis in bloß 6 Prozent der Fälle.
- Ein frauenärztliches Beratungsgespräch für Jugendliche und Frauen zwischen dem vollendeten 12. und dem vollendeten 18. Lebensjahr, bei dem Fragen wie Infektionsprophylaxe, sexuell übertragene Krankheiten, Menstruationshygiene, Verhütung und psychische Veränderungen in der Pubertät behandelt werden, ist in nur 5 Prozent der Fälle pro Quartal verrechenbar.
- In der Urologie ist ein ausführliches uro-onkologisches Beratungsgespräch bei Krebsverdachtsdiagnose in maximal 10 Prozent der Fälle pro Quartal verrechenbar.
- Fachärzten für Kinder- und Jugendheilkunde wird ein orientierender Schnelltest auf A-Streptokokken aus dem Rachenabstrich bei Kindern und Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr in maximal 2 Prozent der Fälle bezahlt.
Anbieten ärztlicher Leistungen zum Nulltarif hat Grenzen
Diese Liste problematischer Deckelungen fernab des realen Patientenbedarfs könnte fast beliebig fortgesetzt werden. Und sie zeigt, dass viele Kassenärzte einen guten Teil Ihrer Leistungen unentgeltlich anbieten, weil der tatsächliche Bedarf natürlich weit über der Deckelung liegt. Aber das Anbieten medizinischer Leistungen zum Nulltarif hat natürlich Grenzen, schon deshalb, weil es für Ärzte mit Zeit und Kosten verbunden ist. Das gilt für MRT-Untersuchungen ebenso wie für die Physikalische Medizin und diagnostisch-therapeutische Aussprachen. So wird mittels Deckelungen praktisch eine Flaschenhals-Situation geschaffen, und die Wartezeiten werden verlängert.
Dieses eigentümliche System von Obergrenzen führt bereits unter normalen Bedingungen zu unnötigen Problemen beim Erbringen von ärztlichen Leistungen. In der aktuellen gesundheitspolitischen Situation, in der wir uns auf Grund der Umsetzung des Ärztearbeitszeitgesetzes befinden und vermutlich noch länger befinden werden, äußern sich Deckelungen fatal.
Natürlich sind niedergelassene Ärztinnen und Ärzte bereit, möglichst viele Patienten bestmöglich zu betreuen. Wenn aber gleichzeitig die Arbeitszeit in Spitälern verringert wird und zum Beispiel die Gemeinde Wien fast 400 Spitalsärzteposten einsparen will, dann muss spätestens dann der niedergelassenen Bereich kräftig auf- und ausgebaut werden. Es muss also endlich eine Wende in der Gesundheitspolitik eingeleitet werden. Zum Beispiel wurden in den vergangenen 15 Jahren in Österreich etwa 900 Arztpraxen mit Kassenvertrag abgebaut, tatsächlich bräuchten wir aber 1.300 mehr als heute, um die Spitäler sinnvoll entlasten zu können.
Gesundheitspolitiker, Kassenfunktionäre und Patientenanwälte fordern vielfach, dass Arztpraxen ihre Tätigkeit auf Wochenenden und in die Abendstunden ausdehnen sollen. Doch schon heute werden niedergelassenen Ärzten aufgrund von Deckelungen und Degressionen nicht einmal entfernt die tatsächlich erbrachten Leistungen vergütet, sondern nur ein Teil davon. Eine Leistungsausweitung zum Nulltarif zu fordern, wäre ja geradezu grotesk – keiner anderen Berufsgruppe würde man so etwas ernsthaft zumuten.
Einziger Maßstab für bezahlte Gesundheitsleistungen ist der Patienten-Bedarf
Es sei noch einmal in aller Klarheit festgestellt:
- Die eingezogenen Deckelungen sind willkürlich, dienen ausschließlich dem Einsparen und berücksichtigen nicht den tatsächlichen Bedarf der Patienten.
- Deckelungen behindern die Versorgung, sorgen für unnötige und oft gefährlich lange Wartezeiten, und können für Patienten eine Phase belastender Verunsicherung bedeuten. Sie sind deshalb aus medizinischer und ethischer Sicht abzulehnen.
- Deckelungen zwingen viele Patienten dazu, in die private Medizin auszuweichen, um kurzfristig einen Diagnose- oder Behandlungstermin zu bekommen. Viele können sich das nicht leisten. Deckelungen sind also auch aus sozialen Motiven abzulehnen.
- Maßstab für bezahlte soziale Gesundheitsleistungen ist der Bedarf der Patienten. Dieser kann einzig von Ärzten gemeinsam mit den Patienten definiert werden, weil nur Ärzte über ein hohes medizinisches Wissen verfügen.
- Aus ärztlicher Sicht kann es deshalb im Interesse der Versorgung der Patienten nur eine Forderung geben: Deckelungen und Degressionen gehören ersatzlos gestrichen.