Eine Reihe von Mediziner-Medien hat jetzt über eine Veranstaltung der Ärztekammer zum Thema „Evidenzbasierte Medizin kann Ihrer Gesundheit schaden – Wie Wissenschaft als Rationierungsinstrument missbraucht werden kann“ berichtet. Das veranlasst mich, auf dieses Thema etwas ausführlicher einzugehen.
Der Hintergrund:Evidence-based-Medicine (EbM) bedeutet, einer verbreiteten Definition zufolge, die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung unter Einbeziehung der Patientenbedürfnisse. Diese Zielsetzung ist grundsätzlich sehr zu begrüßen. Allerdings ist in jüngerer Vergangenheit zunehmend eine Reduktion des ursprünglichen EbM-Konzepts auf ausschließlich externe Evidenz zu verzeichnen. Die individuelle klinischen Erfahrung und die Patientenbedürfnisse werden dabei tendenziell vernachlässigt. In Österreich, so wurde auf dieser Veranstaltung kritisiert, beabsichtigt der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger gemäß einer Veröffentlichung in der „Sozialen Sicherheit 4-2014“ Leistungen, deren Wirksamkeit nicht durch HTA (Health Technology Assessment) „bewiesen“ sind, aus den Leistungskatalogen der Kassen zu entfernen oder dort nicht aufzunehmen. Nur die angeblich am besten evaluierten Behandlungen sollen von den Krankenassen bezahlt werden. Kritiker dieser Position wendeten ein, dass durch die Selektion der berücksichtigten Studien und Evidenzklassen die Evidenzergebnisse beeinflusst werden.
Manipulativer EbM-Einsatz, um weniger ärztliche Leistungen bezahlen zu müssen
Ich möchte meine diesbezüglichen Eindrücke so zusammenfassen: „Man spürt die Absicht und ist verstimmt“. Weil hier offensichtlich das grundsätzlich sehr sinnvolle Konzept der EbM manipulativ eingesetzt werden soll. Mit der Absicht, eine Begründung dafür zu produzieren, dass die Kassen künftig weniger ärztliche Leistungen bezahlt müssen als zuvor. Und das in einer Zeit, wo mehrmals im Jahr Jubelmeldungen des Hauptverbandes in den Medien gebracht werden, dass die Kassen saniert sind und Überschüsse produzieren. Ein weiterer Schritt voran also auf dem „Kostendämpfungspfad“ von „Gesundheitsreformern“, damit wieder einmal der Rotstift angesetzt werden kann?
Ein Pionier der modernen EbM, Professor David Sackett von der McMaster University, war da sehr vorausschauend. 1996 hat er in einem Beitrag im British Medical Journal zur Frage „Evidenzbasierte Medizin: Was sie ist und was sie nicht ist“, solche Manipulations-Versuche, wie wir sie gerade beobachten, explizit kritisiert. „Manche fürchten auch, dass die EbM von Einkäufern von Gesundheitsleistungen und von Managern ‚gekidnappt‘ wird, um die Kosten der Krankenversorgung zu reduzieren“, schreibt er dort, und bezeichnet solche Bemühungen sehr eindeutig als „Missbrauch des Konzeptes“.
Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.
Erkennbare Versuche, Kompetenzen der Ärzteschaft zu beschneiden
Es gibt aber in der Diskussion, die wir hier führen, noch einen Gesichtspunkt, der mich als Arzt und Ärztevertreter sehr unangenehm berührt. Das sind die einmal mehr erkennbaren Versuche, Kompetenzen der Ärzteschaft zu beschneiden. Das hat schon seit längerer Zeit Tradition. Erinnern wir uns: Es ist noch nicht lange her, als in der Ära Stöger hochproblematische Strategiepapiere des Gesundheitsministeriums die Runde machten: Dort hieß es zum Beispiel, dass die „Einschätzung des Behandlungsbedarfes und der Dringlichkeit sowie Ersthilfe“, aber auch „Anamnese, Erstdiagnostik, abgestufte weiterführende Diagnostik und Therapie“ nicht mehr notwendiger Weise durch Ärzte erfolgen, sondern durch – wörtlich! – „verschiedene Gesundheitsberufe“. Wer außer den Ärzten dafür ausgebildet und in der Lage sein soll, wurde uns in diesem Papier nicht erklärt. Dass aber Nicht-Ärzte in schweren akuten Fällen die erforderlichen Schritte bestimmen und veranlassen sollen, ist grotesk und bedeutet für Patienten ein inakzeptables Sicherheitsrisiko.
Es ist uns schließlich gelungen, das wieder heraus zu verhandeln. Aber der politische Wille, die Kompetenz der Ärzte zu relativieren und in der Folge zu beschneiden, war doch klar erkennbar, und wir haben das auch nicht vergessen. Deshalb schauen wir jetzt immer noch genauer hin, wenn Gesundheitsreformer wieder einmal eine neue Idee präsentieren, zum Beispiel die strategisch motivierte Verstümmelung der EbM auf wenige Evidenzstufen. Wie wir gehört haben, bedeutet das nicht weniger, als dass zwar Studien eine berücksichtigungswerte Evidenz darstellen, nicht jedoch die Erfahrung des Arztes.
Schauen wir, was Professor Sackett zu diesem Thema sagt: Die Praxis der EbM, schreibt er dazu, bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung. Wörtlich: „Mit individueller klinischer Expertise meinen wir das Können und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben. Ein Zuwachs an Expertise spiegelt sich auf vielerlei Weise wider, besonders aber in treffsichereren Diagnosen und in der mitdenkenden und -fühlenden Identifikation und Berücksichtigung der besonderen Situation, der Rechte und Präferenzen von Patienten bei der klinischen Entscheidungsfindung im Zuge ihrer Behandlung.“
Von den drei Säulen der EbM – nämlich der individuellen klinischen Erfahrung, der Werte und Wünsche des Patienten und dem aktuellen Stand der klinischen Forschung – bleibt also, denkt man bestimmte gesundheitspolitische Ideen weiter, als Grundlage für die Bezahlung von Leistungen durch die Kassen nur noch die Studienlage übrig. Die ärztliche Kompetenz zählt in so einem Konzept nicht mehr bzw. wird drastisch beschnitten.
Bloß keine Kochbuchmedizin nach Schema F
Das ist eine Kochbuchmedizin nach Schema F, die man sich nicht ernsthaft wünschen kann. Diesem Versuch, in das ärztliche Handeln einzugreifen, müssen wir entschlossen begegnen. Der Trend, dass Gesundheitsökonomen, Gesundheitsbürokraten und Gesundheitspolitiker an der Stelle von Ärzten, die als einzige dafür ausgebildet sind, Therapieentscheidungen vorgeben, ist für Patienten völlig negativ und muss gestoppt werden.
Zusammenfassend: Klinische Studien können individuelle klinische Erfahrung zwar ergänzen, aber nicht ersetzen. Die individuelle Erfahrung des Arztes entscheidet, ob die externe Evidenz überhaupt auf den individuellen Patienten anwendbar ist und, falls das zutrifft, wie sie in die Entscheidung integriert werden kann. So muss auch jede Praxisleitlinie dahingehend überprüft werden, ob und wie sie den klinischen Zustand des Patienten, seine Lage und seine Vorstellungen berücksichtigt. Das ist ein verantwortungsvolles, dynamisches Modell für die individuell jeweils bestmögliche Behandlung, und das Gegenteil der von den Gesundheitsreformern verordneten rigiden Kochbuchmedizin.
Wie sagte doch Professor Sackett zu diesem Thema: „Kliniker, die eine Kochbuchmedizin fürchten, werden sich jedenfalls mit den Advokaten der EbM auf den Barrikaden wiederfinden.“